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Du kannst nicht immer siebzehn sein

Er gehört zu den bekanntesten deutschen Musikverlegern, ausgezeichnet mit dem Echo für sein Lebenswerk und unvergessener Komponist von „Ein bißchen Frieden“, mit dem „Nicole“ 1982 als erste Deutsche den Eurovision Song Contest gewann. Ralph Siegel, der auf seinem Weg des Erfolgs auch stets ein Stück weit polarisierte, hat dabei nicht nur Musikgeschichte geschrieben, sondern den Aufstieg und Wandel einer ganzen Branche biographisch miterlebt. Wir treffen den stets umtriebigen Unternehmer in seiner Pullacher Villa zum Gespräch und müssen das Phänomen „Siegel“ noch einmal ganz neu bewerten.

Ich stehe vor einer Art „Trophäenwand“, gespickt mit goldenen Schallplatten, Auszeichnungen und Preise. Einen Bambi, goldene Golfschläger und sogar das Bundesverdienstkreuz kann ich entdecken. Ralph ist nebenan bei dem letzten Feintuning einer Komposition beschäftigt und hatte  mich gebeten, ihn noch um einige Minuten zu vertrösten. Eigentlich habe ich an alle Gesprächspartner nur eine Frage, der ich auf den Grund gehen möchte: „Warum?“. Der Mann ist über siebzig, arbeitet täglich noch 12 – 14 Stunden und genehmigt sich dabei 2 Flaschen Wein und noch den ein oder anderen Mai Tai dabei. Warum? – weil er es kann, könnte man scherzhaft sagen, aber seine lapidare Antwort darauf ist, dass er Musik und das Komponieren liebe. Diese Tätigkeit ist sein Leben und es als Beruf von seinem „Sein“ zu trennen, mit freiem Wochenende und Feierabend, käme einer Amputation gleich. Er wisse gar nicht, was Menschen nach ihren erfüllten 38 Wochenstunden mit ihrer restlichen Zeit anfangen würden. Kreativität und musikalisches Denken, enden eben nicht mit Renteneintrittsalter. 

Dabei beginnt die Beantwortung der Frage nach dem „Warum“ viel früher. Ralph Siegel wird in eine musikalische Verlegerfamilie hineingeboren.

Seine Mutter ist eine bekannte Operettensängerin und sein Vater komponierte Hits wie „Die Capri Fischer“ oder „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“, die das Lebensgefühl der Nachkriegsjahre und den zarten Beginn des Wirtschaftswunders in einer einzigartigen Stimmung widerspiegelten. Ralph wächst mit den Showgrößen – und wichtiger – mit den Machern der Stars, nämlich Verlegern, Produzenten, Tontechnikern und Musikern seiner Zeit auf. Die Eltern geben rauschende Feste in ihrer Villa am Chiemsee und ermöglichen dem einzigen Sohn, privilegierte Stationen einer hervorragenden Ausbildung. Begonnen von den besten Schweizer Internaten, über Praktikumsplätze in Paris, New York und Nashville USA. Ralph spielt selbst mehrere Instrumente, spricht fließend  Englisch, Französisch und Italienisch. Doch im Laufe seiner Auslandsaufenthalte entdeckt er eine weitere Erfolgskomponente: seinen unternehmerischen Ehrgeiz. Denn einerseits schwärmt er von dem Glück der Liebe einer Mutter zu Ihrem Sohn, die ihm sein ganzes Leben lang Geborgenheit und Heimat im Herzen schenkte und andererseits war es ihm immer ein Anliegen, besonders seinen Vater Stolz auf ihn zu sehen. Einmal in den Charts sein – oder besser noch: einmal die Nummer Eins sein. Aber das Showgeschäft ist keine Mathematik und Erfolg bleibt unberechenbar. Kaum hat man eine vermeintliche Formel gefunden, hat sie sich auch schon wieder abgenutzt – verbraucht. 

Und dann hält Ralph beim Erzählen kurz Inne: „In Prinzip ist alles Glück im Leben – bei meinem Lebenswandel ist es ein Wunder, dass ich noch hier sitze. Überhaupt sind es doch die tausend Zufälle, die zuerst passieren müssen, bevor etwas Großes entsteht.“
Das beeindruckt mich. Die meisten Menschen, die es zu Bekanntheit oder Vermögen gebracht haben, führen dies allzu gerne  auf Ihr eigenes Geschick zurück. Die Erkenntnis, dass man selbst immer in einem Kontext agiert, der sich völlig außerhalb seiner eigenen Einflussnahme ereignet, ist unter „Erfolgsmenschen“ eher dünn gesät. Tatsächlich ist Ralph Siegels Geschichte auch ein Stück Wirtschaftsgeschichte. Nicht nur, dass sich die politischen Systeme nach der zerstörten Weltordnung, als Folge des 2. Weltkrieges neu ordnen mussten, auch die damit verbundenen Handelsbeziehungen und kulturellen Bindungen wurden neu definiert. Zeitgleich startete eine technische Revolution, deren Ende noch immer nicht in Sicht ist.
Während sich in den 50er bis 60er Jahren die Aufnahme von 1 zu 6 spurigen Tonbandgeräten entwickelte, saß man in den 70er und 80er Jahren vor meterbreiten Mischpulten, um in den 90er Jahren bereits erste Effekte digitalisiert zuzufügen. Und plötzlich explodierte der Fortschritt so rasch, dass Ralph Siegels Millioneninvestition in Studioequipment, in wenigen Jahren verpuffte, als ihm ein Toningenieur einen kleinen Computer mit gleichem Leistungsniveau auf das gigantische Mischpult stellte. Soweit zur Seite der Produktion – denn auch auf Seiten der Konsumenten kam es zu der ein oder anderen Revolution und Ralph Siegel war in guten, als auch in schlechten Zeiten direkt davon tangiert. 

Mit Gründung seiner ersten Firmen, investierte Ralph in das goldene Zeitalter der Musikindustrie. Rundfunkanstalten wie der BR, NDR oder WDR, sowie die Fernsehanstalten ARD und ZDF wurden aufgebaut. Die Infrastruktur der amerikanischen Unterhaltungsindustrie – die der europäischen natürlich um Jahre voraus war, konnte Ralph als Vorbild dienen, um ähnliche Produktions- und Vermarktungsmöglichkeiten in Deutschland aufzubauen. Es war der Beginn eines Ausstrahlungs-, Handels-, Produktions- und Vermarktungssystems, das in diesen Nachkriegsjahren seinen Ausgangspunkt fand und sich in eine kaum zu entwirrende Komplexität in der heutigen Zeit entwickelt hat. Es geht um Lizenz-, Urheber-, Vermarktungsrechte, GEMA Gebühren, Copy Rights, Ausstrahlungen und Veranstaltungen. Und weil die Produktion von Schallplatten, dann Kassetten und später CD`s immer günstiger wurde und die Ausstrahlungen von neuen Titeln zentralisiert waren (bei 2 Fernsehprogrammen schaut halt die halbe Nation deine Sendung), wuchs die Branche und die damit verbundenen Erfolge aller Beteiligter. In den 90er Jahren hatte Ralph Siegel bereits mehr als 100 Mitarbeiter. Seine Schützlinge waren in den Charts, seiner Konkurrenz war er immer um eine Nasenlänge voraus und in den Boulevardblättern wurden die zahlreichen „Siegelgeschichten“ rund um die  Münchner „Schickeria“ veröffentlicht. Seit Jahren hatte er es doch immer und immer wieder geschafft, sich für das große Thema seines Lebens, den „Eurovision Song Contest“ zu platzieren. Und weil mit wachsendem Erfolg natürlich auch die Zahl der Neider wuchs, musste er sich immer neuen Tricks bedienen. So wurden neue Lieder in die Vorentscheide der Wettbewerbe eingereicht, in dem er sich so manchem Pseudonym bediente, um nicht als „Siegel“ aussortiert zu werden. Und siehe da: nach sämtlichen „Blindverkostungen“ wurden dann die Siegelwerke wieder ausgewählt!

Und wir kennen sie alle: „Fiesta Mexicana“, „Unser täglich Brot ist die Liebe“, „Du kannst nicht immer siebzehn sein“, „Dschinghis Khan“ und hunderte mehr. Ralph Siegel gerät ins schwärmen, erzählt von genialen Textern, herausragenden Musikern und großen Künstlern in seinem Arbeitsumfeld. Ich werde etwas nervös auf meinem Hintern und denke mir: „wie sag` ich`s meinem Kinde?“. 

Geniale Texte, große Künstler – Kunst? 

Vielleicht ist mein literarischer und musikalischer Anspruch kein Bundesdurchschnitt, aber beim Lesen der Textzeilen und Hören der simplen Akkordfolgen stehen mir ehrlich gesagt die Haare zu Berge. Ich möchte nicht despektierlich sein und schon gar nicht das Lebenswerk dieses Mannes schmälern und frage mich, was denn die „Kunst“ an der Sache sei? 

Tatsächlich brauche ich ein ganzes Wochenende um persönliche Klarheit in die Definition der Begrifflichkeiten zu bringen. Ich komme zum Ergebnis, dass es sich bei Siegels Werk geradezu um Antikunst handelt und das Erreichen dessen, mit einer ähnlichen Qual und Herausforderung verbunden ist, wie das bei einem Kunstschaffenden der Fall ist. 

Ralph Siegel ist auf der Suche nach einem Hit, nach der nächsten Nummer Eins. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn eine größtmögliche Identifikation der Hörer, mit dem Song stattfindet. Und genau hier kommt der Instinkt, das besondere Gespür und Talent von Ralph zum Vorschein: Mit einer Zeile Text und wenigen Tönen zieht er die Hörer in seinen Bann, vereint in einem übergeordneten, alle miteinander verbindenden Gefühl – einer Sehnsucht, eines Schmerzes, eines Verdrängens oder Begehrens.

Ein Künstler versucht, in der klassischen Definition eines künstlerischen Prozesses, das genaue Gegenteil – nämlich die authentische Darstellung eines höchst individuellen, graduellen Maßes eines Gefühls bzw. einer Situation. 

Was Ralph Siegel mit einem großen Künstler gemeinsam hat ist, dass er auf unvergleichbare Art und Weise über die Fähigkeit verfügt, genau diese hochsensiblen Frequenzen wahrzunehmen und in seiner Arbeit umzusetzen. Er ist es, der unmittelbar und leibhaftig spürt, wenn jemand oder etwas einen Nerv trifft. Das Gefühl einer ganzen Generation, einer komplexen gesellschaftlichen oder politischen Situation. 

Hier greift die einfache Formel: je anspruchsvoller ein Künstler ist, desto kommerziell erfolgloser ist er in der Regel, da sein Werk von zu wenig Menschen nachvollzogen werden kann. Umgekehrt ist der umso erfolgreicher, dessen Tenor seiner Arbeit, von unendlich vielen Menschen nachempfunden wird. Die Herstellung eines Produktes ist für beide Seiten ähnlich anspruchsvoll und genau das ist es, was Ralph Siegel mit „Genialität“ und „Anspruch“ meint, wenn er über sich und sein Team aus Textern, Komponisten und Musikern spricht. 

In Prinzip zeichnet sich Siegels Werk als „Genialität des Banalen“ aus, wobei banal hier nicht als Bewertung, sondern als Beschreibung fungiert. 

Und daher schlagen seine Werke ein wie Bomben, die einer gezündet hat. „Ein bißchen Frieden“ von Nicole ist so eine Bombe. Ein einfacher Text, eine einfache Melodie – aber genau der Zündstoff, der Millionen von Menschen zum richtigen Zeitpunkt aus der Seele spricht. Ralph Siegel ist der Mann mit dem Instinkt, der aus hunderten von Bausteinen (Textschnipsel, Melodien, Sängern- und Interpreten, Choreographen, Bühnenbildnern, Tontechnikern etc. pp), die Komplexität der unendlichen Möglichkeiten, auf eine einfache Formel reduziert: den nächsten Hit. Das ist dann tatsächlich genial und in der Musikgeschichte einmalig. Kein anderer Komponist hat so viele Titel in den Vorentscheiden zu dem European Song Contest unterbringen können, wie er. Hier werden  aus hunderten von eingereichten Songs die besten  ausgewählt, ohne dass die Jury um die Urheber der Werke Bescheid wüsste. Über 25 mal waren Werke von Ralph Siegel international vertreten. 

Natürlich sind dann die Texte nicht unbedingt nobelpreisverdächtig – obwohl, seit Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat und Obama für Frieden, ist die Vergabe dieses Preises anscheinend ja auch inflationär geworden. (Nichts gegen Bob Dylan – aber für Literatur!?)

Doch wo nimmt Ralph diesen Instinkt her, dieses unbeirrbare Gefühl, für was wann die Zeit reif ist, was die Menschen bewegt und berührt? 

Um es einfach auszudrücken: Ralph Siegel ist authentisch in seinem Werk. Er selbst ist das, was er seine Interpreten auf der Bühne zum Ausdruck bringen lässt. In seiner Welt, ist die Welt eine bessere. Er ist sein ganzes Leben lang dauerverliebt. Durch seine Augen wird jede Angebetete zur schönsten Frau der Welt. In jedem Lächeln und koketten Blick liegt das Versprechen von Ewigkeit, Versuchung und Romantik. Für seine Freunde wünscht er sich Freundschaft, für die Menschen Gesundheit und Frieden. Er kann lieben, aber auch trauern wie kein Zweiter, er kann feiern und sich berauschen. Er ist ein Spieler und beinahe ein Zocker und verkörpert damit genau den Grad an Verruchtheit, den sich die Bürger selbst nicht zugestehen können. Bei seinen Wettbewerben gibt es nur Mitbewerber und keine Gegner, denn Ralph Siegel hat allen voran nämlich eines: ein verdammt großes Herz. 

Doch in all diesen Eigenschaften sind auch einige Schatten verborgen. Wer es allen Recht machen will, vernachlässigt zwangsläufig den ein oder anderen – schlimmer noch: sich selbst. Den klassischen Raubbau eines Workaholics ist stets mit einem hohen Preis verbunden. Wenn alles gut läuft, sich Erfolge einstellen, dein Unternehmen wächst und Dir die Welt zu Füßen liegt, kann man auch viel kompensieren. Aber die Branche hielt unangenehme Überraschungen parat, gepaart mit persönlichen Schicksalsschlägen. Heute gibt es kaum noch CD Verkäufe, die Musik wird über Downloads angeboten. Die großen Musikformate der öffentlich, rechtlichen Sender wurde bis auf 2-3 Ausstrahlungen eingedampft. Dort spielen dann in steter Regelmäßigkeit die immer gleichen Interpreten zum Tanze auf. Die Musiker selbst müssen immer mehr den Gesetzmäßigkeiten der Marketingstrategien genüge tun und die politische Landschaft steht schlicht und ergreifend zu wenig hinter deutschsprachigen Produktionen. In Frankreich muss z.B. schon per Gesetz über 50% der ausgestrahlten Musik französisch sprachig sein. Aus einst mehr als einhundert Mitarbeitern, musste Ralph Siegel sein Team auf nur noch zwanzig reduzieren. Ein harter Schlag – nicht nur finanziell, sondern vor allem auch menschlich. Schließlich war Ralph mit den meisten über Jahre persönlich verbunden. 

Aber er wäre nicht Ralph Siegel, wenn er sich von schlechten Ausgangsbedingungen einschüchtern ließe. Die Herausforderung ist es, das Beste aus den gegebenen Umständen zu machen. Und warum nicht die Gunst der Stunde nutzen und endlich einmal das umsetzen, was schon seit Jahren in einem reift. Aktuell arbeitet Ralph an seinem nächsten Musical und man spürt seine Begeisterung, wenn er von der unendlichen Freiheit und Kreativität erzählt, mit dem er die einzelnen Figuren seines Stückes mit Leben erfüllt. Und er wundert sich dabei: „Warum habe ich das nicht schon viel früher gemacht?“ 

Tobias Vetter

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